Dienstag, 23. April 2024

19760-19769

dô wart diu frouwe minnesam

dar ûf bereit geswinde,

daz si mit ir gesinde

dar in daz tempel kæme

und ouch dâ war genæme

der fremden ritterschefte clâr.

dô man ir seite daz vür wâr,

si wæren schœne und ûz erkorn,

dô hete ungerne si verborn

die reise zuo der hôchgezît.


war die liebenswerte Dame

bald dazu bereit,

mit ihrem Gefolge

in den Tempel zu gehen,

um dort die strahlenden, fremden Ritter

zu sehen.  

Da man ihr versicherte, 

dass sie schön und herausragend seien,

wollte sie ungern auf 

die Reise zum Fest verzichtet.


[Auch in dieser Woche wieder mit großartiger Hilfe meiner Freiburger Studierenden.]

Montag, 22. April 2024

19750-19759

was an ir keiserlichen jugent

und an ir werden lîp gewant.

ouch hete si liut unde lant

und was ein küniginne rîch:

nieman ze Kriechen was gelîch

dem künige Menelâô,

der si ze wîbe hete dô

mit liuterlicher stætikeit.

diu künigîn stolz und gemeit,

dô si Troyære kunft vernam,


die sich in ihrer kaiserlichen Jugend

und ihrem edlen Körper verwirklicht hatten. 

Zudem herrschte sie über Land und Leute

und war eine mächtige Königin. 

Niemand in Griechenland 

konnte mit König Menelaos konkurrieren,

der sie treu und fest

zur Ehefrau hatte.

Als die stolze und lebensfrohe Königin

von der Ankunft der Trojaner hörte, 

Freitag, 19. April 2024

19740-19749

er wolte ir leben unde ir lîp

uns allen z’eime urkünde geben,

sô daz er niemer wîbes leben

für si geschepfen wolte baz.

dô sîn gewalt ir bilde maz,

dô leite er an si manic model.

der pfaffen schrift, der jüden rodel,

und aller Sarrazîne brief

diu sagent von dem wunder tief,

daz von êren und von tugent


Wunsch und Vorstellung wollten uns allen 

mit ihrem Leben und ihrem Körper beurkunden,

dass niemals mehr ein weibliches Geschöpf geschaffen werde,

das besser sei als sie.

Als der Wunsch und die Vorstellung mit ihrer Macht 

ihr Bild entwarfen, griffen sie dafür auf viele Formen und Vorbilder zurück.

Die Schrift der Theologen, die Schriftrollen der Juden

und alle Schriften der Muslime,

sie alle berichten von dem großen Wunder

an Ansehen und Veranlagung, 

Donnerstag, 18. April 2024

19730-19739

gelîch dem wilden adelaren,

der sweimet in den wolken.

swaz ie von wîbes molken

ze fleische und ouch ze beine wart,

daz was ein wint an reiner art

biz an daz spilnde wunder,

daz an ir lac besunder

von ûz erwelter clârheit.

der Wunsch der hete an si geleit

mê flîzes denne ûf alliu wîp.


so wie der wilde Adler,

der in die Wolken aufsteigt.

Alles, was ja aus Muttermilch  

zu Fleisch und Gebein geworden ist,

das war, was den reinen Adel anbelangt, nur ein Wind

im Vergleich zum leuchtenden Wunder,

das sie war –

ein Wunder an beispielloser Schönheit.

Mehr als alle anderen Frauen war sie all das,

was man sich wünschen und vorstellen konnte.

Mittwoch, 17. April 2024

19720-19729

ir schœne was sô bodenlôs,

daz man niht grundes drinne sach.

swaz man von frouwen ie gesprach

an buochen unde an lieden,

dâ lopten unde schieden

die wîsen ûz ir schœnen lîp

für alliu minneclîchiu wîp.

Ir name an êren unde an lobe

fuor ie den besten frouwen obe

und muoz ouch ob in iemer varen


Ihre Schönheit war wie ein Fass ohne Boden,

sodass man kein Ende erkennen konnte.

Von all dem, was man je über Frauen gesagt hat,

in Büchern und Liedern,

davon wurde ihre schöne Erscheinung

von denen, die das beurteilen konnten,

abgesetzt und von allen liebenswerten Frauen unterschieden.

Was das Ansehen und das Lob anbelangt,

stand ihr Name stets vor den besten Damen

und wird auch immer vor ihnen sein,

Dienstag, 16. April 2024

19710-19719

swâ man ir tugentlichen lîp

begunde rehte schouwen.

si kunde liehte vrouwen

mit ir clârheite blenden.

nû seht, wie von den wenden

erschîne ein tôt gemælde blint,

swâ lebende crêâtiure sint,

sus wâren alle varwe

tôt unde erloschen garwe,

sô man ir lebendez bilde kôs.


wo auch immer man ihren tadellosen Körper

hinlänglich betrachten würde.

Sie war in der Lage, leuchtende Damen

mit ihrer Schönheit zu blenden.

Nun seht, wie farblos an den Wänden

ein totes Bild aussehen würde,

wenn es dort lebende Wesen gibt –

genau so waren alle Farben

tot und ganz erloschen,

sobald man ihrer ansichtig wurde.  


[In diesem Semester helfen mir Studierende der Universität Freiburg beim Übersetzen – herzlichen Dank dafür!]

Montag, 15. April 2024

19700-19709

des sol ein wol bescheiden man

erkennen unde merken bî,

daz mîn gemüete lûter sî

und ich daz beste gerne tuo.

leg ich der werke niht dar zuo,

doch tuon ich reinen willen schîn

und lobe die glanzen künigîn

gern unde wol nâch mîner state.

reht als ein troum und sam ein schate,

sus wâren alliu schœniu wîp,


Daran kann jemand, der sich auskennt,

merken und erkennen,

dass ich die besten Absichten habe

und dass ich gerne das tue, was am besten ist.

Wenn ich es auch nicht in die Tat umsetze,

so zeige ich doch meinen untadeligen Willen

und lobe die strahlende Königin

gern und so gut ich es vermag.

Ganz wie ein Traum und wie ein Schatten

wären alle schönen Frauen,